Regula Stämpfli: Rückfall ins Mittelalter

Regula Stämpfli, Politologin mit beachtlicher Medienpräsenz, hat in der «Weltwoche» einen Text pro Todesstrafe publiziert. Das ist ihr gutes Recht. In einer Demokratie darf man pro und kontra (fast) alles schreiben. Regula Stämpfli darf Menschenrechte mit biblischen Argumenten verneinen. Sie darf sich von einem Menschenbild leiten lassen, das längst vergangenen Zeiten entspringt. Sie darf polarisieren und der «Weltwoche»-Leserschaft nach dem Mund reden, selbst wenn es das Letzte ist, was sie tun sollte. Sie darf. Aber es zeugt von wenig Sachverständnis und von noch weniger Vernunft.

Regula Stämpflis Text steht unter der Spitzmarke «Philosophie». Schon der Titel – «Einbruch des Bösen» – zeigt, dass wir es eher mit Ignoranz als mit «Liebe zur Weisheit» zu tun haben.

Stämpfli beginnt ihren Text durch und durch unlogisch:

Eine Einführung der Todesstrafe in Ländern, in denen sie längst abgeschafft wurde, wäre tatsächlich ein Zurückfallen in Willkür und voraufklärerische Zustände. Trotzdem stellen sich angesichts der jüngsten Anschläge verstörende Fragen.

Weshalb sollten wir uns «verstörende Fragen» antun, wenn die Todesstrafe den Rückfall in Willkür und Mittelalter bedeutet? Keine Ahnung. Aber:

Politik besteht nicht einfach aus Theorie und absoluten Normen, daher muss das politische Handeln immer wieder überprüft werden.

Doch, in wichtigen Bereichen tut sie genau das. Das «Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit» ist ein (hoffentlich) unumstösslicher Bestandteil der Menschenrechte und verbietet, zumindest in Europa, die Todesstrafe. Ausser ganz rechten Kreisen stellt diesen Grundsatz niemand in Frage – bis jetzt.

Das Böse hat sich dieser Tage in Paris und Nigeria in unvertrauter Art offenbart.

Wer in den vergangenen Wochen aus aktuellem Anlass die Bilder aus Ausschwitz gesehen hat, kann den Begriff «unvertraut» nur als kompletten Blödsinn bezeichnen.

Vor allem: Soll jetzt, 2015, tatsächlich immer noch von «dem Bösen» die Rede sein? Regula Stämpflis Text beruht auf einer geradezu kindlichen, mittelalterlich-religiösen Betrachtungsweise. Die moderne, aufgeklärte Gesellschaft sieht den Menschen differenzierter. Eva Marsal und Regina Speck stellen in ihrem Buch «Gut/Böse – ein Januskopf?» fest:

Allerdings kennt die Moderne den Ausdruck «Personifizierung des Bösen» nur als Metapher. Eine unpersönliche Kraft des Bösen, die sich in Menschen personifiziert, gehört für sie in das Reich der Metaphysik. Real annehmen kann man nur bestimmte Charakterzüge, deren Entstehung erklärbar ist. (…) Durch diese Erklärung wird der Begriff des Bösen nicht nur überflüssig, er wird zu einem groben und verzichtbaren Platzhalter für erklärbare Prozesse und Phänomene menschlichen Verhaltens.

Regula Stämpfli scheint diesbezüglich irgendwo in der Vergangenheit stehen geblieben zu sein. Jedenfalls geht es auch im weiteren Verlauf ihres Texts ausschliesslich um die Feststellung, dass es «das Böse» gibt und dass es ausserordentlich zu behandeln ist:

Wie muss der liberale Rechtsstaat reagieren? Wenn wir nicht in einer Welt leben wollen, in der ethische Grundsätze als verhandelbar und austauschbar gelten, dann braucht es klare Regelungen für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, jenseits von momentan praktizierter Gerechtigkeit.

Genau, ethische Grundsätze sollen nicht verhandelbar sein. Aber was bitte heisst «Regeln jenseits von momentan praktizierter Gerechtigkeit»? Sind die Strafen noch nicht erfunden, die Ihnen vorschweben, Frau Stämpfli?

Diese Einsicht, dass Gerechtigkeit und Vergeltung herrschen müssen, wird inzwischen gern und locker mit dem Hinweis auf «Umstände» zugunsten der Täter geopfert.

Regula Stämpfli spricht sich hier für pures Schwarzweiss-Denken aus. Ein Mord ist ein Mord, ein Diebstahl ein Diebstahl, Umstände spielen keine Rolle. Ein wahrlich veraltetes Rechtsempfinden.

Zudem: Wie eine Politologin allen Ernstes Gerechtigkeit und Vergeltung in einem Atemzug nennen kann, ist ein Rätsel. Gerechtigkeit ist das, was eine Gesellschaft anstreben soll. Vergeltung ist Rache. Rache bringt niemanden weiter und kann definitiv nicht das Ziel eines zivilisierten Staats sein.

Es geht um Taten, denen gegenüber jeder Mensch nur mit Entsetzen reagieren kann und aufgrund deren er sprachlos ist. Taten, die nie hätten geschehen dürfen. Taten, die den Willen der Täter zum Ausdruck bringen, jede Menschlichkeit, ja die Tatsache des Menschseins schlechthin zu verneinen.

Mich persönlich macht zum Beispiel Lebensmittelspekulation sprachlos. Geldgier, ausgetragen auf dem Buckel der Ärmsten, die daran verhungern, ist eine Tat, die nie hätte geschehen dürfen. Soll ich also für diese Leute die Todesstrafe fordern? Wo ziehen wir die Grenze? Eine Frage, die auch Regula Stämpfli stellt:

Wie aber unterscheiden wir «normale Verbrechen» vom Bösen?

Eine präzise, anwendbare Antwort bleibt sie uns schuldig. Stattdessen folgen lange Abschnitte über Anders Breivik, die zeigen sollen, wie böse das Böse tatsächlich ist, wie sehr die Gesellschaft unter der zivilisierten Verwahrung des Bösen leidet. Der Vortrag beinhaltet die Aussage:

Der Preis, den Norwegen und seine Bewohner dafür zahlen müssen, Breivik «zivilisiert» und lebenslänglich zu versorgen, ist nicht nur monetär eine Belastung (…).

Es ist bezeichnend für ihre offensichtliche Ahnungslosigkeit, dass Regula Stämpfli suggeriert, Hinrichtungen seien billiger als eine lebenslange Verwahrung. Ausnahmslos jede Studie zu den Kosten der Todesstrafe, die ich gefunden habe, kommt zum gegenteiligen Schluss. Die Todesstrafe ist nur dann eine preiswerte Lösung, wenn wir es wie die Chinesen tun: Verurteilen und auf der Stelle erschiessen. Erstrebenswert?

Wohl kaum. Doch Regula Stämpfli kümmern Realitäten wenig. Lieber geht sie ganz weit zurück in der Geschichte:

Was tun, wenn es Verbrechen gibt, die so unaussprechlich sind, dass sie nie hätten geschehen dürfen? Verbrechen, über die auch im Neuen Testament steht, dass es für die Täter besser gewesen wäre, sie wären nie geboren worden und dass sie – wie selbst der grosse Vergeber Jesus meint – mit einem «Mühlstein am Hals gehänget und ersäuft würden im Meer».

Wahrlich starke Argumente. Jesus hat vor 2000 Jahren gelebt. Was bitte hat die damalige Welt, das damalige Rechtsempfinden mit dem zu tun, was die heutige, aufgeklärte Gesellschaft für richtig erachtet?

Dann holt sich Regula Stämpfli Unterstützung bei Hannah Arendt, einer jüdischen Philosophin, die 1962 dem Prozess gegen Holocaust-Logistiker Adolf Eichmann beiwohnte:

Zweitens muss Eichmann zum Tode verurteilt werden, weil er den Willen kundtat, die Welt nicht mit einer ganzen Reihe von Kategorien, Menschen, Volksgruppen und insbesondere dem jüdischen Volk teilen zu wollen, und alles daran gesetzt hatte, diese auszurotten. «Keinem Angehörigen des Menschengeschlechts kann zugemutet werden, mit denen, die solches wollen und in die Tat umsetzen, die Erde zusammen zu bewohnen. Dies ist der Grund, der einzige Grund, dass Sie sterben müssen.»

Sicher: Hannah Arendt ist eine grosse Philosophin. Aber: Sie fällt ihr Todesurteil aufgrund subjektiver Werte. Darf der Entscheid über Leben und Tod so begründet werden? Nein! Die einzige Lösung ist deshalb, den Tod als Strafe auszuschliessen. Das sieht Regula Stämpfli anders:

Angesichts des Bösen stellt sich die Frage nach der Urteilskraft, die verlangt, Unterschiedliches unterschiedlich und Gleiches gleich zu behandeln. Wer die Morde in Paris mit einem geplanten Mord beispielsweise eines Geschäftspartners gleichstellt, hat die Tragweite dessen, was nie hätte passieren dürfen, nicht erfasst.

Was die Tragweite dessen ist, was nie hätte passieren dürfen, erklärt uns Regula Stämpfli natürlich nicht. Aber mittlerweile ist klarer geworden, was sie meint: Wer Menschen zum Beispiel aus purer Geldgier tötet, soll zivilisiert behandelt werden, wer für seine Taten politische oder religiöse Motive angibt, verdient den Tod. So einfach ist das.

Als ob ihr Text bis hierhin nicht schon unsinnig genug gewesen wäre, führt ihn Stämpfli in einem einzigen Abschnitt ad absurdum. Plötzlich ist wieder vergeben statt hinrichten der richtige Weg. Sie schreibt:

Geschieht dies, wie in der neuesten Ausgabe von Charlie Hebdo, mit dem Slogan «Alles ist vergeben», so nimmt das den Tätern den Grossteil der beabsichtigten Sprengkraft, die sich die Radikalisierung und Spaltung unserer Zivilgesellschaft erhofft hatten. «Alles ist vergeben» wirft die Täter und ihre Motive auf ihre eigene kleine Erbärmlichkeit zurück und lässt keinen Platz mehr für Heroisierung und falsches Pathos.

Genau darum geht es. Ein Staat darf sich nie auf das Niveau eines Individuums begeben. Ein Staat, der tötet, trägt zur Radikalisierung und Spaltung bei, er ist ebenso erbärmlich wie die Mörder, die er tötet, er bietet jede Menge Platz für Heroisierung und Pathos.

Ob Eichmann, Breivik oder die Attentäter von Paris: Jeder Einzelne ist aufgerufen und verpflichtet, sich Gedanken darüber zu machen, wie mit dem Bösen umzugehen ist. Gegenüber dem Bösen kann es keine Neutralität geben.

Ja, jeder Einzelne ist aufgerufen, darüber nachzudenken, wie mit Texten à la Regula Stämpfli umzugehen ist. «Tages-Anzeiger»-Redaktor Fabian Renz hat es getan, als Einziger bis jetzt:

Die Todesstrafe ist eine politische Untote. Wir sollten für die kommenden Begegnungen gerüstet sein, gedanklich, philosophisch, moralisch. Die Grenze zwischen Leben und Tod ist die rote Linie, vor der jedes Strafvollzugssystem Halt machen muss – absolut und ohne jede Relativierung.

Dem gibt es nichts beizufügen.

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